Sprachtheorie: Grundbegriffe (2024)

Bevor wir uns mit Sprachtheorie befassen können, müssen wir einpaar wissenschaftstheoretische Prolegomena machen. Denn wir könnenja nicht voraussetzungsfrei anfangen, Sprachtheorie zu betreiben. So wollenwir denn versuchen, die vorauszusetzenden Begriffe und Postulate der Reihenach explizit zu machen.

Sprachtheorie ist, kurz gesagt, die Instanz, in der die Erkenntnisse aller Sprachforschung systematisch zusammengefaßt und begründet sind. Ein präziseres Verständnis des Begriffs 'Sprachtheorie' werden wir gewinnen, wenn wir uns mit der Bedeutung seiner Bestandteile, 'Sprache' und 'Theorie', befassen. Beginnen wir mit der Klärung des Begriffs 'Theorie'.

Eigenschaften einer Theorie

Voraussetzungen

Die wörtliche Bedeutung des aus dem Griechischen stammenden WortsTheorie ist "Anschauung". Diese Erklärung scheint dem, was wir gewöhnlichmit dem Wort verbinden, geradewegs zuwiderzulaufen. Theorien finden wirmeist gerade nicht anschaulich, sondern abstrakt. Dies sind jedoch keinesachgerechten Assoziationen. Die Paraphrase von 'Theorie' durch 'Anschauung'ist durchaus auch dem modernen Theoriebegriff noch angemessen, wenn mannämlich 'Anschauung' im Sinne von Sehweise, Auffassung, Konzeptionversteht. Angenommen, es gibt einen gewissen zusammenhängenden Bereichvon Gegenständen unserer Innen- oder Umwelt. Wir gewinnen Erkenntnisseüber diesen Gegenstandsbereich und organisieren diese zu einer Anschauungvon ihm, in dem soeben erläuterten Sinne. Je vollständiger nun diese Anschauung ihren Gegenstandsbereich erfaßt, je systematischer sie organisiert ist, je besser sie integriert und begründet und je objektiver sie gefaßt ist, desto mehr verdient sie den Namen einer Theorie, d.h. eine desto bessere Theorie ist sie.

Dies sind also die Qualitätsmerkmale einer Theorie:

  • Vollständigkeit
  • Systematizität
  • Integration
  • Begründung
  • Objektivität.

Um diese Qualitäten ihrer Erkenntnisse bemüht sich besondersdie Wissenschaft. Daher könnten wir auch einfach sagen: Eine Theorieist die wissenschaftliche Anschauung eines Gegenstandsbereichs. Aber danndürften wir bei der Definition von 'Wissenschaft' den Begriff 'Theorie'nicht verwenden. Das jedoch müssen wir, denn Wissenschaft läßt sichdefinieren als eine menschliche Tätigkeit, die sich um die methodischkontrollierte Aufstellung von Theorien bemüht (vgl. Finke 1979: 3,5).

Dieser Theoriebegriff ist weiter unten in seinen Aspekten zu entfalten. Zunächst allerdings fällt esder wissenschaftlichen Reflexion auf, daß Wörter wie Theorie,aber auch Wissenschaft, Grammatik und mehrere ähnliche, eine zweifacheVerwendung haben. Sie können grammatisch einerseits als Massensubstantivebehandelt werden, sind dann nicht pluralisierbar und nehmen den indefinitenArtikel nicht. Diese Verwendung tritt auf in Sätzen wie den folgenden:

  • Schon die alten Griechen haben Wissenschaft in unserem Sinne betrieben.
  • Theorie ist wertlos ohne Praxis.
  • Das zentrale Betätigungsfeld vieler Linguisten ist Grammatik.

Dieselben Wörter können andererseits als Individualsubstantive behandelt werden, sind dann pluralisierbar undnehmen auch den indefiniten Artikel. Diese Verwendung illustrieren diefolgenden Sätze:

  • Diese Wissenschaft ist noch ziemlich jung.
  • Lieber eine falsche Theorie als gar keine Theorie.
  • Jeder Linguist sollte in seinem Leben wenigstens eine Grammatik schreiben.

In ihrer Verwendung als Individualsubstantivebedeuten diese Wörter Vorkommen, d.h. individuelle Ausprägungendes allgemeinen Phänomens, das das Massensubstantiv bezeichnet. ImWortfeld ‘Wissenschaft’ heißt das oft, daß das Massensubstantiveine Disziplin, das Individualsubstantiv eine Ausprägung oder einProdukt der Disziplin bezeichnet. Theorie ist daher einerseits allgemeindie Organisation von Erkenntnis zu einer Anschauung, die bestimmten (obengenannten) Anforderungen genügt. In diesem Sinne steht der Begriffder Theorie dem der Praxis gegenüber (s. Wissenschaft vs. Praxis). Andererseits ist eine Theorieeine individuelle Ausprägung dieses allgemeinen Phänomens.

Derselben zweifachen Verwendung unterliegtauch der Terminus 'Sprachtheorie'. 'Sprachtheorie' in generischer, singularischerVerwendung bezeichnet eine wissenschaftliche Disziplin; eine Sprachtheoriedagegen, in spezifischer, pluralisierbarer Verwendung, ist ein individuellesProdukt dieser Disziplin. Überschriften sind freilich immer abgekürztund verzichten auf sonst notwendige Artikel. Daher ist das Wort 'Sprachtheorie'auch als Benennung dieses Traktats in dem erläuterten Sinne zweideutig.

Wenn eine Theorie eine Anschauung eines Gegenstandsbereichs ist, soimpliziert dies, daß ein gegebener Gegenstandsbereich nicht einebestimmte, nämlich die einzige ihm gemäße Theorie determiniert.1 Vielmehr gibt es über einen gegebenen Gegenstandsbereich oder innerhalb einer gegebenen Disziplin mehrere konkurrierende Theorien. Diese können alternativ sein, d.h. einander ausschließen. Dann ist höchstens eine davon wahr. Häufiger noch ergänzen sie einander, d.h. betreffen verschiedene Aspekte des Gegenstandsbereichs. In dem Maße, in dem eine Theorie nur einem Aspekt eines Gegenstandsbereichs gerecht wird, ist sie natürlich nicht vollständig.

Neben einigen wahren gibt es natürlich auch viele falsche Theorien (s. anderswo zum Begriff der Wahrheit). Deshalb ist die im logischen Positivismus gelegentlich vorgebrachte Definition einer Theorie als einer Menge von wahren Sätzen über einen Gegenstandsbereich ungeschickt; das Gemeinte ist besser im Postulat der Objektivität aufgehoben. Eine Theorie als eine Menge von Sätzen zu bezeichnen, kann dagegen nichts schaden. Wenn eine Anschauung in sprachliche Form gebracht werden soll – und wenn sie den obigen Anforderungen genügen soll,so muß sie das –, ist es kaum zu vermeiden, daß dies in Form von Sätzen geschieht. Diese Definition ist freilich eine rein formale und äußerliche, die über das Wesen der Theorie und ihre Rolle in der Wissenschaft nichts aussagt.

Integration

Daß eine Theorie integriert sein soll, bedeutet zweierlei, betriffteinen internen und einen externen Aspekt der Theorie:

  • Unter dem internen Aspekt soll die Theorie folgendes leisten:
    1. Sie soll einen maximalen Zusammenhang zwischen ihren Teilen herstellen. Dieser Aspekt einer Theorie ist ihre Kohärenz.
    2. Sie soll widerspruchsfrei sein. Dieser Aspekt einer Theorie ist ihre Konsistenz.
    3. Sie soll die Vielfalt der Erscheinungen auf dasWesentliche zurückführen. Dieser Aspekt einer Theorie ist ihre Einfachheit.
  • Andererseits soll die Theorie anschließen an komplementäreTheorien über denselben Gegenstandsbereich oder an Theorien überbenachbarte Gegenstandsbereiche und mit ihnen zusammen ein vollständigesGanzes ergeben. Diese ihre externe Integration nennt man auch ihre Fruchtbarkeit.

Objektivität

Da das Aufstellen von Theorien ein so anspruchsvolles Unterfangen unddie aufgestellten Theorien letztlich der Prüfstein der Ergiebigkeiteiner Wissenschaft sind, muß man Theorien daraufhin bewerten können,inwieweit sie ihrem Gegenstandsbereich gerecht werden, und zwar besserals etwaige konkurrierende Theorien. Man will also messen, inwieweit eineTheorie die Anforderungen der Vollständigkeit, Systematizität,Integration und Begründung erfüllt. Damit das möglich ist,muß die Theorie so formuliert sein, daß objektive Bewertungsmaßstäbeangelegt werden können. Die Forderung der Objektivität befindetsich insofern auf einer anderen methodologischen Ebene als die ersten vier:Diese sind nur dann überprüfbar, wenn die Theorie eben jene Forderung erfüllt.

Objektivität einer Theorie besagt in erster Linie Intersubjektivität:Es muß gewährleistet sein, daß jeder die Theorie so interpretiertwie ihr Autor. Alles, was in der Theorie gelten soll, muß daher ausdrücklichund unmißverständlich gesagt werden. Es gibt keine impliziten, als selbstverständlich betrachteten Vorannahmen. Zur Überprüfung der Theorie muß der Leser seine Intuition und sein gutwilliges Verständnis nicht bemühen. Theorien, Annahmen und überhaupt Aussagen, die diese Voraussetzungenerfüllen, heißen explizit. Die Explizitheit einerTheorie ist eine Forderung, die aus ihrer Objektivität notwendig folgt (Näheres dazu unten).

Bei einer empirischen Theorie hatObjektivität eine zweite Seite: Angemessenheit gegenüberdem Gegenstand. Ob eine Theorie ihrem Gegenstand gerecht wird, überprüftman dadurch, daß man sie auf ihn anwendet. Es müssen sich alsoaus den Gesetzesaussagen der Theorie partikuläre Aussagen ableitenlassen, von denen man feststellen kann, ob sie im Gegenstandsbereich zutreffen.Im Hinblick darauf, daß die Überprüfung der Aufstellungder Theorie zeitlich folgt, heißen solche abgeleiteten Aussagen auch Voraussagen der Theorie. In methodologischer Hinsicht ist hierbei (seit Popper 1994) nicht wichtig, daß man Fälle finden kann, die die Theorie bestätigen,sondern daß die Theorie so formuliert ist, daß man sie falsifizierenkann. Eine Theorie zu falsifizieren bedeutet einen Fall im Gegenstandsbereich anzugeben, der sich anders verhält als von der Theorie vorausgesagt. Aus der Objektivität einer Theorie folgt mithin ihre Falsifizierbarkeit: Wenn nicht klar ist, wie der Gegenstandsbereich beschaffen sein müßte, damit der Autor seine Theorie als widerlegt betrachtete, ist sie nichtfalsifizierbar.2

Erklärungskraft

In Definitionen von 'Theorie' ist häufig von Gesetzen, von Beschreibungund Erklärung die Rede. Soweit diese Begriffe etwas mit dem Theoriebegriffzu tun haben, sind sie in dem Begriff der Anschauung sowie in unseren Forderungender Vollständigkeit, Systematizität, Integration, Begründungund Objektivität enthalten:

  • Wenn eine Anschauung sprachlich objektiv formuliert ist, so beschreibt sie den Gegenstandsbereich, von dem sie eine Anschauung ist.
  • Wenn sie systematisch organisiert ist, so läßt sie einzelne Phänomene, die dem Gegenstandsbereich angehören, nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern faßt das Zusammengehörige zusammen, bildet allgemeine Begriffe und formuliert die Zusammenhänge zwischen diesen. Das heißt aber, sie formuliert Gesetze.
  • Wenn die Theorie wohlbegründet, d.h. unter anderem korrekt aufgebaut ist(vgl. Finke 1979: 24 et pass.), so stellt sie eine hierarchische Ordnung zwischen fundamentalen und abgeleiteten Gesetzen her. Dieser hierarchische Zusammenhang zwischen den Gesetzen kann im weiteren kausaler oder finaler Natur sein. Daher lassen sich aus den Gesetzen kausale oder finale Erklärungen ableiten.

Formale Theorien

Explizit ist, was ausdrücklich gesagt ist. Ob etwas allerdings ineiner Menge von Sätzen ausdrücklich gesagt ist, ist – da es ja normalerweise nicht um den buchstäblichen Wortlaut geht – eine Frageder Interpretation dieser Menge. Wenn sie in einer natürlichen Spracheformuliert ist, sind hier wieder keine objektiven Kriterien anwendbar.Daher verlangt man, die Theorie möge in einer formalen Sprache ausgedrücktsein, damit formale Kriterien angewendet werden können. Eine Theorie,die dieser Forderung genügt, ist eine formale Theorie. Diein Frage kommenden formalen Sprachen sind im Prinzip jegliche Sorte vonKalkül, wie sie in der Logik, Mathematik und Informatik aufgestellt werden. In der Linguistik spielen besonders der Aussagen- und der Prädikatenkalkül und höhere Stufen davon eine Rolle.

Eine besonders wichtige Art von formaler Theorie ist die axiomatischeTheorie. Sie genügt den Forderungen nach systematischem und begründetemAufbau durch folgende Struktur: Die Fundamente der Theorie erhalten einenSonderstatus. Die primitiven Begriffe, die nicht erklärt werden, werdenvon den abgeleiteten unterschieden.Die primitiven Sätze, die nicht aus anderen abgeleitet werden, aus denen jedoch alle anderen abgeleitet werden können, heißen Axiome. Eine axiomatische Theorie genießt wegen ihres durchsichtigen und logischen Aufbaus den Vorzug vor anderen Theorien. Daher wird in den Wissenschaften, die mit der Formalisierung ihrer Theorien gemeinhin keine Schwierigkeiten haben, der Axiomatisierung besondere Aufmerksamkeit gewidmet.3

Die formalen Bewertungsmaßstäbe, zum Beispiel das Kriteriumder Widerspruchsfreiheit, sind völlig berechtigt. Eine Theorie kannbereits an ihnen scheitern, ohne daß man inhaltliche Kriterien überhauptins Feld zu führen braucht. Mithin ist die Forderung nach Formalisierungeiner Theorie grundsätzlich sinnvoll. Für sie gilt jedoch, wasoben über die Objektivität überhaupt gesagt wurde: Die Formalisierungist nicht eine Forderung, die gleichberechtigt neben die anderen an eineTheorie zu stellenden Forderungen tritt. Sie ist lediglich ein methodischesPostulat, dessen Erfüllung es erleichtert, zwischen guten und schlechtenTheorien zu unterscheiden. Eine nicht-formalisierte Theorie ist also nichteinfach schlecht; es ist nur schwieriger zu beurteilen, ob sie gut ist.Wir werden uns später der Frage widmen, warum linguistische Theorien so schwerzu formalisieren oder gar zu axiomatisieren sind und warum gerade die formalenlinguistischen Theorien oft nicht die besten sind.

Empirische, logische und hermeneutische Theorien

Die Gegenstände und Weisen menschlicher Erkenntnis lassen sich sowie in der folgenden Darstellung systematisieren:

Arten der Erkenntnis
Welt
| empirisch
|
menschl. Geist Mitmensch
logisch hermeneutisch

Hiernach bezieht sich Erkenntnis auf drei grundsätzlich verschiedene Artenvon Gegenständen, von denen wir zunächst nur die ersten beidenbetrachten:

  1. Gegenstände, die wir in der uns umgebenden Weltvorfinden, die also unserer Wahrnehmung zugänglich sind;
  2. Gegenstände, die wir nur in unserem Denken vorfinden, die also nichtwahrnehmbar sind.

Über die ersteren können wir Beobachtungen anstellen und auf diese Weise etwas über sie in Erfahrung bringen. Die letzteren sind nicht Objekte der Erfahrung und nicht auf Beobachtbares zurückführbar; wir können sie nur einer begrifflichen Analyseunterwerfen. Die ersteren sind empirische, die letzteren logischeGegenstände.

Es kann hier offen bleiben, ob logische Gegenstände (z.B. Zahlen)denkende Menschen voraussetzen oder ob sie (im platonischen Sinne) vor und unabhängig von denkenden Wesen existieren.

Ist der Gegenstandsbereich einer Theorie empirischer Natur, ist eseineempirische Theorie; ister logischer Natur, ist es eine logische Theorie. Diese Beziehungist nicht vertauschbar. Insbesondere gilt: Will man eine Theorie übereinen empirischen Gegenstandsbereich machen, so ist eine logische Theorienicht das Gesuchte.4

Ein Gegenstand ganz anderer Art ist das, was der Mitmensch des erkennendenSubjektes meint und was dieses zu verstehen sich bemüht. Dieses isteinerseits nichts, was in der umgebenden Welt vorfindlich und beobachtbarwäre (ein empirischer Gegenstand), es ist andererseits aber auch nichts, was unabhängig von aller Erfahrung gegeben wäre (ein logischer Gegenstand). Vielmehr ist es uns durch Einfühlung, durch Einverständnis zugänglich, also dadurch, daß wiruns in den anderen hineinversetzen. Und diese Haltungen oder Handlungensind wiederum nur gegenüber Menschen und deren Botschaften, nichtjedoch gegenüber empirischen oder logischen Gegenständen sinnvoll.Wissenschaftliches Verstehen ist Hermeneutik; eine Theorie, dieauf Verstehen beruht, ist eine hermeneutische Theorie.

Das folgende Schema verdeutlich noch einmal die Systematik der drei Erkenntnisarten:

Arten der Erkenntnis
Erkenntnisobjekt
im erkennenden Geistaußerhalb des erkennenden Geistes
Produkt eines anderen erkennenden Geistesnatürlicher Gegenstand
Erkenntnisartlogischhermeneutischempirisch

Die meisten Wissenschaften lassen sich nach diesen drei Erkenntnisweiseneinordnen. Z.B. sind Philosophie und Mathematik logische Wissenschaften,Chemie und Biologie sind empirische Wissenschaften, Literatur- und Geschichtswissenschaft sind hermeneutische Wissenschaften.

Methodologische Funktion der Theoriebildung

Insoweit eine Theorie den Forderungen nach systematischem und begründetemAufbau genügt, leistet sie einen Beitrag zur Grundlagenforschung inihrer Wissenschaft. Denn sie bringt dann die Begriffe innerhalb ihres Bereichsin eine Hierarchie von primitiven und abgeleiteten Begriffen und zeigtalso, auf welchen Begriffen die Wissenschaft aufgebaut werden kann. Einmethodisch wichtiger Aspekt dieser Funktion von Theorien ist die Tatsache,daß die Theorie Positionen der Wissenschaft ans Licht holt, die inder Forschung sonst implizit bleiben, unhinterfragt vorausgesetzt werden.Bei dem Versuch, die Theorie in begründeter Weise aufzubauen, müssensolche Positionen explizit gemacht werden. Dabei wird dann deutlich, obsie haltbar und mit anderen Positionen verträglich sind und welchenStellenwert sie im Gebäude der Wissenschaft haben.

Die Funktion der Theoriebildung, implizit Vorausgesetztes explizit zumachen, ist in den empirischen Wissenschaften besonders wichtig. Allzuleicht kann bei der empirischen Forschung der Eindruck entstehen, man brauchenur in methodisch kontrollierter Weise den Gegenstandsbereich zu beobachtenund darüber Hypothesen zu bilden, so gelange man zu sicheren wissenschaftlichenErkenntnissen, die der Theoretiker dann in seine Theorie einbauen könne und müsse.Dabei wird übersehen, daß alle Erfahrung theorieabhängig ist. Außerhalb und unabhängig von jeglicher Theorie bestehen lediglich die Phänomene, das Material. Der Stoßseufzer eines Empirikers, "die Theorien vergehen, aber das Material bleibt bestehen" (Löfstedt, SyntacticaI, 1942II: IX), ist insofern, wenn auch etwas theoriefeindlich,so doch durchaus zutreffend. Nur macht das Sammeln von Material alleinnoch keine Wissenschaft. Sobald wir über unseren GegenstandsbereichBeobachtungen anstellen, also sogenannte Fakten konstatieren und somitErkenntnisse gewinnen, machen wir gewisse Vorannahmen, ob wir sie nun inForm einer Theorie explizit machen oder, wie meist, implizit und vielleichtsogar unbewußt voraussetzen. Zum Beispiel läßt sich derWechsel zwischen zwei Allophonen, den die Phonologen, wie sie sagen, beobachten,in keiner Weise voraussetzungslos beobachten. Eine hier gemachte Voraussetzungist zum Beispiel, daß der Lautstrom überhaupt in Segmente gegliedertist. Dies aber ist etwas, was sich nicht unmittelbar beobachten, sondernallenfalls durch Hypothesen erschließen läßt.9

Daß die auf die Durcharbeitung des Gegenstandsbereichs gerichteteempirische Arbeit und die bei ihr gemachten Beobachtungen die Theoriebildungin einer empirischen Wissenschaft kontrollieren müssen, war schonin unserer Forderung enthalten, eine Theorie müsse ihrem Gegenstandsbereichangemessen sein, und eine Theorie über einen empirischen Gegenstandsbereichmüsse mithin eine empirische Theorie sein. Hier kommt es auf den entgegengesetzten Gesichtspunkt an: Die Theoriebildung muß die empirischeArbeit kontrollieren; sie muß dem Empiriker seine Vorannahmen zuBewußtsein bringen und diese hinterfragen.

Eigenschaften

Wir wenden nun das Gesagte auf die Sprachtheorie an. Dabei treten Besonderheitenauf, die aus dem anderen Begriff resultieren, aus dem zusammen mit demBegriff 'Theorie' der Begriff der Sprachtheorie gebildet ist. Da dieserTraktat die oder eine Theorie der Sprache bietet, klärt er den Begriffder Sprache. In dem erreichbaren Maße vollständig geklärt sein wird dieser Begriff also erst am Ende dieses Traktats. Wir müssen uns hier mit einer kurzen Vorwegnahme dessen begnügen, was für die theoretische Behandlung von Sprache wichtig ist (Elementares zum Sprachbegriff anderswo). Sprache ist das unbeschränkte Schaffen interindividuell verfügbarer Bedeutungen. Diese Definition hat eine Reihe von Implikationen für die Natur der Sprache und damit auch für die Natur der Theorien, die diesem Gegenstand gerecht werden können.

1. Fangen wir damit an, daß die geschaffenen Bedeutungen interindividuellverfügbar sind. Das besagt ja, daß sie zwischen Menschen5 übermittelt werden können; und dies besagt wieder, daß sie in einem Medium übertragen werden, das Menschen wahrnehmen können. Bekanntlich ist das in erster Linie der Laut, in zweiter Linie die Schrift. Der Gegenstand der Sprachtheorie, und ebenso auch der Sprachwissenschaft, ist also wahrnehmbar oder hat mindestens eine wahrnehmbare Seite. Insoweit ist er ein empirischer Gegenstand, die Sprachtheorie ist eine empirische Theorie, und ebenso ist die Sprachwissenschaft eine empirische Wissenschaft.

Dies hat weitreichende Konsequenzen. Eine Theorie muß ihrem Gegenstandsbereichadäquat sein. Das besagt in allererster Linie, daß sie eineTheorie des Gegenstandsbereichs ist, von dem sie eine Theorie zu sein vorgibt.Jede rein logische Theorie scheidet mithin als mögliche Sprachtheorievon vornherein aus. Es ist nicht möglich, eine adäquate Sprachtheorie"im Lehnstuhl", wie es so schön heißt, also durch reine Begriffsanalyse,aufzustellen; denn es gibt wesentliche Dinge über Sprache zu wissen,die man nur durch Erfahrung wissen kann. K. Bühler sagt:

“Die Sprachtheorie muß die einfache Spitze des empirischen Werkes der Sprachforscher sein.” (Bühler 1934: XXIV)

2. Andererseits schafft Sprache Bedeutungen. Bedeutungen aber sind mentale Entitäten, Bewußtseinsgrößen, Komponentendes Denkens. Wir schaffen einerseits Bedeutungen nach den Gesetzen unseresDenkens; andererseits sind die Gesetze des Denkens durch unsere Sprachemitgeformt, und zwar sowohl durch unsere spezifische Muttersprache (langue)als auch durch die menschliche Sprache (langage). Auf die Beziehungenzwischen Sprache und Denken, zwischen Sprachstruktur und Logik, wird erstim Kapitel über Sprache und Denken eingegangen. Wie komplex sie sind, kann man schon daran ermessen, daß sich sowohl behaupten läßt,die Logik sei allem Denken und aller Sprache a priori vorgeordnet, alsauch, die Logik sei ein Derivat aus unserer natürlichen Sprache. Füruns genügt es festzuhalten, daß die Sprache eine innere Seitehat, welche zwar der Introspektion zugänglich ist, deren Erkenntnissich aber nicht ausschließlich aus Erfahrung ergibt, sondern zumTeil schon vor aller Erfahrung in uns angelegt ist. Daraus folgt, daßSprachtheorie neben dem empirischen auch einen logischen Aspekt hat.

Nichts von dem bisher Gesagten würde darauf schließen lassen,daß die Aufstellung und Formalisierung einer Sprachtheorie irgendschwieriger sein sollte als die Aufstellung und Formalisierung von Theorienüber andere Gegenstandsbereiche. Die Erfahrungswissenschaft, in derdie Formalisierung von Theorien notorisch am weitesten fortgeschrittenist, ist die Physik. Ihr Gegenstandsbereich hat mit dem der Linguistikgemeinsam, daß er empirisch ist. Die Sprache hat darüber hinausnoch jene logische Komponente, die der Formalisierung von Theorien übersie wohl eher förderlich als hinderlich sein sollte. Dennoch ist manin der Linguistik von fruchtbaren formalen Theorien im Sinne der Physikweit entfernt. Die meisten in der Linguistik existierenden formalen Theoriensind entweder nicht wirklich formal (es gibt durchaus eine Scheinformalisierung),oder aber sie sind nicht empirisch, sondern rein logisch und damit nachdem oben Gesagten ihrem Gegenstandsbereich nicht angemessen. Worin aberliegt die Crux?

Daß wir in der Sprache Bedeutungen unbeschränkt schaffen,wie es in der Definition hieß, besagt, daß wir darin frei sind, soweit das Erfordernis der interindividuellen Verfügbarkeit dies zuläßt.In allen seinen Tätigkeiten und Lebensäußerungen, nichtnur in der Sprache, ist der Mensch frei. Freiheit bedeutet auch Freiheitvon Gesetzen und Regeln. Alle Wissenschaften von den Tätigkeiten und Lebensäußerungen des Menschen haben seiner Freiheit Rechnung zu tragen. Die Systematisierung ihres Gegenstandsbereichs hört da auf, wo er nicht mehr systematisch ist. Widerspruchsfreiheit der Theorie ist unmöglich, wenn der Gegenstandsbereich selbst Widersprüche enthält.6 Deshalb sind linguistische Theorien nicht – unter Wahrung ihrer Objektivität – restlos formalisierbar.

3. Obwohl Sprecher und Hörer in der Sprachtätigkeit frei sind, haben sie doch einen erstaunlich hohen Erfolg in ihrem Bemühen, Bedeutungen gemeinsam zu schaffen, d.h. das Ziel zu erreichen, daß der eine dieselben Bedeutungen erzeugt wie der andere. Dieses Ziel kann nicht quasi automatisch, algorithmisch erreicht werden, denn erstens ist der beiden gemeinsame Code, wie schon gesagt, nicht vollständig systematisch und geregelt, und zweitens genügt der Code nicht zur gemeinsamen Erzeugung von Sinn, zur Verständigung also. Zahlreiche mit Sprache verzahnte oder außersprachliche Faktoren, von denen später die Rede sein wird, beeinflussen unsere Verständigung. Einen anderen verstehen bedeutet folglich mehr, als die von ihm übermittelten Signale nach dem Code zu entschlüssen, nach dem er sie verschlüsselt hat. Verstehen beruht auf einem zwischenmenschlichen Einverständnis, das immer schon vorausgesetzt ist. Die Grundlage davon ist die zwischenmenschliche Empathie.

Die Sprachwissenschaft hat keinen anderen Zugang zu ihrem Gegenstand, als ihn alle Sprecher und Hörer haben. Ebenso wie Sprecher und Hörer von ihrem eigenen Innern etwas zu dem Signal dazutun müssen, um sich mit seiner Hilfe zu verständigen, muß dies auch der Sprachwissenschaftler tun, der herausbekommen will, wie Sprecher und Hörer es schaffen, sich sprachlich zu verständigen. Sprachwissenschaft ist somit auch eine verstehende Wissenschaft. Die Sprachtheorie hat folglich neben ihrer empirischen und logischen auch eine hermeneutische Komponente.

Einzelne linguistische Forschungen fokussieren oft nur einen oder zwei dieser Zugänge. Korpus- oder Neurolinguistik nimmt typischerweise überwiegend den empirischen, formale Linguistik nimmt den logischen, und Konversationsanalyse nimmt den hermeneutischen Zugang. In der wissenschaftlichen Arbeit ergänzen diese Zugänge einander. Eine vollständige Sprachtheorie muß sie freilich alle berücksichtigen.

In Klammern sei hier angemerkt, daßwegen dieses dreifachen Charakters der Sprachwissenschaft der perfekteSprachwissenschaftler Fähigkeiten auf empirischem, logischem und hermeneutischemGebiet haben muß. Wenn wir gelegentlich mit Ergebnissen linguistischenBemühens unzufrieden sind, so kann das daran liegen, daß siezwar unter einem oder zweien der drei Gesichtspunkte sauber erarbeitet,jedoch unter dem dritten Gesichtspunkt defizient sind. Daß eine linguistischeArbeit logisch in Ordnung, jedoch empirisch unbedarft sein kann und umgekehrt,ist jedem Linguisten geläufig. Ein Fall, der ebenfalls nicht seltenvorkommt, jedoch meist nicht als solcher diagnostiziert wird, ist der folgende:Ein linguistisches Ergebnis ist sowohl empirisch als auch logisch einwandfreiund dennoch nicht plausibel. Es widerspricht unserer Intuition; wir habenden Eindruck, der Autor habe nicht erfaßt, worum es in dem Gegenstandsbereich"eigentlich" gehe. Eine solche Arbeit ist hermeneutisch defizient.

Oben war gesagt worden, die Verknüpfungen, die eine empirische Theorie herstelle, könnten kausaler Natur sein, und dann ließen sich kausale Erklärungen aus ihr ableiten. Die kausale Erklärungeines Phänomens setzt voraus, daß es ursächlich durch andere Phänomene determiniert ist. Die Sprachtätigkeit ist aber frei; ihre Phänomene sind nicht ursächlich determiniert und folglich nicht kausal erklärbar. Im Bereich dessen, was sprachliche Substanz genannt worden ist (L. Hjemlslev), gibt es kausale Zusammenhänge. Soweit die Weise, in der wir uns sprachlich verständigen, durch das akustische Medium beeinflußt ist (s. Kap. 3), ist sie durch etwas beschränkt und motiviert, was unserem freien Willen entzogen ist. Insoweit sind also kausale Erklärungen möglich. In allem aber, was die sprachliche Form und also den Kern der Sprache angeht, herrscht Freiheit. Dort gibt es also keine kausalen Erkärungen.

Sprachtätigkeit ist auf ein Ziel gerichtet, eben auf das Ziel der Verständigung. Ein Phänomen im Hinblick auf das Ziel, dem es untergeordnet ist, zu beschreiben und zu erklären, heißt, eine finalistische oder teleonomische Beschreibung bzw. Erklärung geben. Die Beschreibungen und Erklärungen, die sich aus einer Sprachtheorie ableiten lassen, sind also finalistischer Natur (Näheres anderswo).

Beteiligte Disziplinen

Eine Sprachtheorie muß Aussagen auf drei Ebenen machen:

  1. über die Einbettung der Sprache in die außersprachliche Umgebung, d.h. die physikalischen, psychischen, sozialen usw. Bedingungen,unter denen sie funktioniert;
  2. über die Natur der Sprache als ganzer, d.h. darüber, was Sprache ist und welche (semiotischen) Eigenschaften sie von anderen Erscheinungen der gleichen Art unterscheiden;
  3. darüber, was in der Sprache (bzw. in allen Sprachen) ist, d.h. über funktionell-strukturelle Einzelheiten, wie sie in der Linguistik als sprachliche Universalien formuliert werden.

Die Ausfüllung der ersten Ebene erfordert eine Einbeziehung der sogenannten Bindestrich-Disziplinen, die der zweiten eine sowohl sprachphilosophische als auch semiotische Perspektive, die der dritten Ebene linguistische Analyse zahlreicher Sprachen.

Man hat eine Streitfrage aus der Frage gemacht, welche Wissenschafteigentlich für die Aufstellung von Sprachtheorien zuständig istbzw. in welche Disziplin die Subdisziplin 'Sprachtheorie' fällt. Man hat behauptet (E. Coseriu, W. Oesterreicher), die zuständige Disziplin sei nicht die Sprachwissenschaft, sondern die Sprachphilosophie. Diese Auffassung läßt sich verhältnismäßig leicht widerlegen. Was für eine Art von Wissenschaft die Philosophie sei, brauchen wir dazu nicht zu klären; es genügt festzustellen, daß sie keine empirische Wissenschaft ist. Eine Sprachtheorie ist jedoch, gemäß dem zuvor Gesagten, eine empirische Theorie. Mithin kann die Sprachphilosophienur Beiträge zur Sprachtheorie leisten, nämlich vermutlich logische und allenfalls hermeneutische. Alles jedoch, was an der Sprachtheorie empirisch ist, muß von empirischen Wissenschaften beigesteuert werden.

Ebenso falsch wäre es aber, wollte man mit dem Geschäft derSprachtheorie ausschließlich die Sprachwissenschaft betrauen. Ineiner ganzen Reihe von Wissenschaften wird Sprachforschung betrieben, wobeiunterschiedliches Schwergewicht auf den empirischen, den logischen undden hermeneutischen Aspekt dieser Tätigkeit gelegt wird. Die Phonetikzum Beispiel konzentriert sich auf die Gewinnung empirischer Erkenntnisseüber Sprache. Die Theorie der formalen Sprachen widmet sich vor allemdem logischen Aspekt des Gegenstandes. Die Philologie rückt der Spracheauf hermeneutischem Wege zu Leibe. Da Sprachwissenschaft gemäßdem zuvor Gesagten sowohl empirisch als auch logisch als auch hermeneutischvorgehen muß, könnte sie theoretisch all diese Gesichtspunktehinreichend berücksichtigen und somit eine allseits zufriedenstellendeSprachtheorie in Alleinarbeit erstellen. Dazu wäre es aber nötig,daß Sprachwissenschaft die genannten Wissenschaften und noch einigemehr inkorporierte. Das entspricht nicht der Arbeitsteilung unter den Wissenschaften. Deshalb bleibt es dabei, daß andere Wissenschaften ebenso wie die Sprachwissenschaft zum Geschäft der Sprachtheorie beizutragen haben. Wenn die jeweils von ihnen beigesteuerten Theorien dem obigen Erfordernis der Fruchtbarkeit genügen, können sie in eine Gesamttheorie integriert werden.

Um das Bild abzurunden, sollen neben den schon genannten eine Anzahl weiterer einschlägiger Wissenschaften erwähnt werden. Welche das sind, sollte sich durch weitere Entfaltung unseres Sprachbegriffs ergeben. Versuchen wir es also auf diese Weise (vgl. auch die graphische Überblicksdarstellung).

Sprache ist eine menschliche Tätigkeit. Zuständig fürden Menschen als ein handelndes Leib-Seele-Wesen ist die Anthropologie.Wenn es ein hierarchisches Wissenschaftsgebäude gäbe derart,daß eine Wissenschaft eine andere inkludieren oder ihr übergeordnetsein könnte,8 so wäre unter allen Wissenschaften die Anthropologiediejenige, in die die Sprachwissenschaft noch am ehesten zu inkludierenbzw. der sie unterzuordnen wäre. In diesem Sinne wäre eine SprachtheorieTeil einer umfassenden anthropologischen Theorie. Abgesehen davon, daßes ein solches Wissenschaftsgebäude nicht gibt, sind die tatsächlichenBeziehungen zwischen Anthropologie und Linguistik – aus hier nicht interessierenden wissenschaftsgeschichtlichen Gründen – nicht so eng, wie es von der vorausgesetzten wissenschaftstheoretischen Position zu fordern wäre.Immerhin gibt es einige anthropologischen Theorien wie die von A. Gehlen(1961), die den Anschluß einer Sprachtheorie begünstigen.

Sprache ist das Schaffen von Bedeutungen. Bedeutungen sind, wie gesagt, mentale Entitäten. Folglich ist hier die Psychologie zuständig. Sie steuert zur Sprachtheorie nicht nur Erkenntnisse über die Natur von Bedeutungen bei, sondern auch Erkenntnisse über diepsychischen Vorgänge, die im Sprecher und Hörer ablaufen. Soweiteine Sprachtheorie mit Redeerzeugung und Redeverstehen zu tun hat, istsie eine psychologische Sprachtheorie. Das Buch von C. Knobloch (1984)ist hier zu erwähnen.

Es gibt, besonders in der Generativen Grammatik, auch die Auffassung, Linguistik sei ein Zweig der Psychologie, nämlich der Denkpsychologie (Chomsky 1972: 1), und jegliche Sprachtheorie sei mithin eine psychologische Theorie. Kennzeichnend für diese falsche Lehre ist die Ausklammerung der sozialen Dimension der Sprache. Im besonderen Falle der Generativen Grammatik ist es paradoxerweise so, daß dieses Verhältnis von Linguistik und Psychologie zwar behauptet wird, daß aber die von der Generativen Transformationsgrammatik tatsächlich vorgebrachten linguistischen Theorien keinen Anschluß an psychologische Theorien haben, so wie Psychologen sie verstehen (vgl. Knobloch 1984).

Sprache ist eine interpersonale Tätigkeit. Unter diesem Aspektist sie Gegenstand der Soziologie. Die Beiträge der Soziologiezur Sprachtheorie betreffen einerseits die soziale Dimension der Sprechsituation,also die Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, andererseits aberauch den sozialen Aufbau der gesamten sprechenden Gemeinschaft, soweiter sich in ihrer Sprachtätigkeit niederschlägt. Sprache ist dassozialpsychologische Phänomen par excellence. Unter dem Gesichtspunktihrer Beiträge zur Sprachtheorie bilden daher Psychologie auf dereinen, Soziologie auf der anderen Seite und Linguistik in der Mitte eineeng zusammengehörige Trias von Wissenschaften.

Interindividuell verfügbare Bedeutungen sind natürlich Bedeutungen von Zeichen. Mit den Sprachzeichen befaßt sich auch die Wissenschaft, die sichmit allen Zeichen befaßt, die Semiotik. Der semiotische Beitragzur Sprachtheorie ist eine Klärung des Begriffs des Sprachzeichensauf dem Hintergrund eines allgemeinen Zeichenbegriffs und die Explikationder Eigenschaften, die ein jegliches Zeichensystem zu seinem Funktionierenbraucht. F. de Saussure (1916) hatte sich wegen dieser begrifflichen Verhältnissevorgestellt, die Linguistik sei ein Teil der Semiotik. Das setzt jedochdie Sicht der Sprache als eines Zeichensystems voraus, die, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, verkürzt ist.

Im Zentrum aller Wissenschaften steht letztlich der Mensch. Spracheist ein so hervorragendes Kennzeichen des Menschen, daß man ihn auchdas sprechende Wesen genannt hat. Aus diesem Grunde ist esnicht zu verwundern, daß die Wissenschaft von der Sprache Berührungspunktemit so vielen anderen Wissenschaften hat. Es wäre müßig,die Aufzählung der Wissenschaften, die zur Sprachtheorie beitragen,zu verlängern. Kommen wir nun vielmehr zu der Frage, welche Stellungdie Sprachtheorie innerhalb der Sprachwissenschaft hat.

Stellung in der Sprachwissenschaft

Linguistische Theorien

Es ist bekannt, daß wo die Wörter fehlen, gelegentlich auch die zugehörigen Begriffe fehlen. Mehrere Sprachen weisen eine spezifische, gerade der linguistischen Begriffsbildung besonders abträgliche Ausdrucksarmut auf, indem sie nicht zwischen 'sprachlich', d.h. 'auf Sprache bezogen', und 'linguistisch', d.h. 'auf Linguistik bezogen', unterscheiden (Elementares hierzu anderswo). Das gilt zum Beispiel für das Englische, wo beides linguistic heißt. Zu einer Kette von in diesem Zusammenhang unglücklichen Umständen gehört ferner, daß man auf englisch statt theory of language meist linguistic theory sagt und daß die anglophone linguistische Begrifflichkeit weite Bereiche des linguistischen Denkens dominiert. Die Folge ist, daß die begriffliche Stellung von Sprachtheorie innerhalb der Linguistik noch unklarer ist also so manches andere in dieser Wissenschaft. Wegen der erwähnten Zweideutigkeit kann linguistic theory sowohl "auf Sprache bezogene Theorie", also "Sprachtheorie", als auch "linguistische Theorie" bedeuten. Der Begriff 'linguistische Theorie' wiederum umfaßtjegliche von Linguisten gemachte Theorie; auf einige davon werden wir sogleichzurückkommen. Hier ist zunächst festzuhalten, daß, wenneine Arbeit von linguistic theory oder von théorie linguistiquehandelt, es noch lange keine sprachtheoretische Abhandlung zu sein braucht;und daß man umgekehrt, will man Sprachtheorie ins Englischeoder Französische übersetzen, theory of language bzw.théorie du langage sagen sollte, um Mißverständnissezu vermeiden.

Das logische Verhältnis der verschiedenen Arten von Theorien, diein einer gegebenen Wissenschaft relevant sind, ist ein Problem der Wissenschaftstheorie. Für die Verhältnisse in der Sprachwissenschaft liegt ein Vorschlag von H.-H. Lieb (1970; aufgegriffen in Oesterreicher 1979, Kap. 2, und Bartsch & Vennemann 1982, Kap. 1) vor, wonach wir für eine gegebene Wissenschaft W auf der obersten hierarchischen Ebene zwei Theorien zu unterscheidenhaben, und zwar nach ihrem Gegenstandsbereich. Auf der einen Seite habenwir die Theorie, deren Gegenstandsbereich gleich dem Gegenstandsbereichvon W ist. Im Falle der Sprachwissenschaft ist das die Sprachtheorie.Auf der anderen Seite haben wir die Theorie, deren Gegenstandsbereich Wist. Im Falle der Sprachwissenschaft ist das die Theorie der Sprachwissenschaft.

Die gesamte Methodologie von W ist nun Gegenstand der Theorie von W. Hierwerden zwei große Bereiche unterschieden. Auf der einen Seite habenwir die Gesamtheit der Methoden, mit denen der Gegenstandsbereich von Wzu erforschen ist; nennen wir sie die Methodik von W. Auf der anderen Seitehaben wir die Gesamtheit der Verfahren, mit denen W ihren Gegenstandsbereichdarstellt und beschreibt; nennen wir sie die Beschreibungsverfahren. DieTheorien dieser beiden Gegenstandsbereiche, d.h. die beiden Teiltheoriender Theorie von W, sind demnach die Methodenlehre von W und die Theorieder Beschreibungsverfahren von W. Die beiden Hauptteile der Theorie derSprachwissenschaft sind entsprechend die Theorie der Spracherforschungoder auch die sprachwissenschaftliche Methodenlehre und die Theorie derlinguistischen Beschreibungsverfahren oder auch Theorie der Sprachbeschreibung. Ein wesentlicher Teil der letzteren ist die Grammatiktheorie; dasist die Theorie von der Form einer Grammatik, also davon, wie Grammatikenabzufassen sind.

Linguistische Theorien
Sprachtheorie: Grundbegriffe (1)

Dieses Jonglieren mit Theorien, die es zum größten Teil garnicht gibt, in abstrakten wissenschaftstheoretischen Höhen, wo dieLuft schon ziemlich dünn wird, mag manchem als l'art pour l'art erscheinen.Tatsächlich werden hier jedoch Entscheidungen gefällt, die handfesteKonsequenzen haben und einem Teil der linguistischen Praxis diametral zuwiderlaufen.Am brisantesten ist sicher die Auffassung, daß Sprachtheorie undGrammatiktheorie zwei völlig verschiedene Dinge sind. Sie sind nichteinmal zwei Aspekte derselben Sache, sondern stehen in zwei verschiedenenZusammenhängen auf verschiedenen hierarchischen Stufen. Dabei istnatürlich vorausgesetzt, daß Sprache und Grammatik in demselbenSinne verschieden sind. Sprache ist eine menschliche Tätigkeit; Grammatikist die wissenschaftliche Beschreibung eines Aspekts dieser Tätigkeit.

In der Theorie der Sprachwissenschaft, die von der Generativen Transformationsgrammatikverbreitet worden ist, ist das völlig anders. Das, was der Muttersprachlerin seinem Kopf hat und in der Sprachtätigkeit aktiviert, und das,was der Linguist beschreibt, heißt beides 'Grammatik'. Das heißt:abgesehen davon, daß hier der Objektbereich auf den grammatischenBereich eingeengt wird, was uns im Augenblick nicht beschäftigt, werdenauch der Gegenstand und seine wissenschaftliche Beschreibung ausdrücklichidentifiziert (mehr dazu unten). Sprache hinwiederum erscheint in diversen Publikationen N. Chomskys (1980: 82f.) als ein "Epiphänomen" am Rande der Grammatik. Soweit es hier überhaupt eine Sprachtheorie gibt, wird sie mit derGrammatiktheorie identifiziert. Einen Zweig, der der linguistischen Methodenlehrein unserem Schema entspräche, gibt es in der Generativen Transformationsgrammatiküberhaupt nicht. Wir brauchen an dieser Stelle nicht in eine Kritikder Auffassung der Generativen Transformationsgrammatik einzutreten. Esgenügt zu sehen, daß die Perspektive dort eine völlig andereist und daß gewisse zentrale Termini eine ganz andere Bedeutung alsdie hier beobachtete haben.

Objektsprache vs. Metasprache

Andererseits ist die hier bevorzugte Einteilung bei näherem Hinsehenauch nicht ganz unproblematisch, und zwar zum Teil durchaus aus denselbenGründen, die in der Generativen Transformationsgrammatik zu einerIdentifikation des Objekts mit seiner Beschreibung geführt haben.In jeder anderen Wissenschaft außer der Linguistik erschiene dieseIdentifikation mit Recht absurd. Das Planetensystem ist klärlich einGegenstand ganz anderer Art als Keplers Theorie des Planetensystems. Nurin der Sprachwissenschaft (und den anderen Disziplinen wie Sprachphilosophie,deren Gegenstand die Sprache ist) liegt der logisch komplizierte Fall vor,daß die Beschreibung des Gegenstands ein Objekt derselben Art istwie der Gegenstand selbst, nämlich ein sprachliches Objekt. Wir könnenSprache immer nur wieder durch Sprache beschreiben.

Logisch läßt sich das Problem lösen, indem man zweiEbenen unterscheidet, die Ebene der Objektsprache und die der Metasprache.Die Objektsprache ist dabei die Sprache, die Gegenstand der Beschreibungist; die Metasprache ist die Sprache, in der wir uns auf eine Sprache alsGegenstand beziehen und sie etwa beschreiben. Bei einer auf deutsch abgefaßtenenglischen Grammatik ist also Englisch die Objektsprache und Deutsch dieMetasprache. Das ist soweit völlig klar. Für die Sprachwissenschaftbleibt allerdings das Problem, daß man die Metasprache verstehenmuß, um die Beschreibung verstehen zu können. Daß in unseremBeispiel Objektsprache und Metasprache zwei verschiedene natürlicheSprachen sind, tut dabei nichts zur Sache (es könnte auch dieselbesein); entscheidend ist, daß zum Verständnis der BeschreibungKenntnisse eben derselben Art vorausgesetzt werden, wie sie gerade beschrieben, alsodoch explizit gemacht werden sollen, nämlich Sprachkenntnisse.

Für Beschreibungen und Theorien aller Wissenschaften gilt, wie oben gesagt, daß sie völlig explizit sein müssen, d.h.nichts dem verstehenden Entgegenkommen des Lesers bzw. Rezipienten überlassendürfen. Wenn eine Theorie oder Beschreibung formalisiert, d.h. ineiner formalen Sprache abgefaßt ist, ist diese Forderung in gewissemSinne erfüllt. Denn die formale Sprache ist mit allen ihren Elementenund Regeln zwischen den sie benutzenden Wissenschaftlern vollständigverabredet; Unklarheiten oder Mißverständnisse sind also nichtmöglich.

Könnte man das der Sprachwissenschaft durch das Verhältnisvon Objekt- und Metasprache aufgegebene Problem also dadurch lösen,daß man linguistische Beschreibungen und Theorien formalisiert? Wirhaben zuvor schon gesehen, daß vollständige Formalisierung inder Linguistik nicht erreichbar ist, weil die Exaktheit der Metasprachean der Vagheit und Widersprüchlichkeit der Objektsprache abprallt.Im gegenwärtigen Zusammenhang ist das Problem jedoch ein ganzanderes: Ist, wenn wir in der Wissenschaft eine Metasprache in allen ihrenTeilen restlos verabreden, wirklich gewährleistet, daß in ihrabgefaßte Theorien und Beschreibungen des entgegenkommenden Verstehensdes Rezipienten nicht mehr bedürfen? Die Antwort lautet offensichtlich:nein. Denn um die Metasprache zu verabreden, mußten wir ja eine Sprachebenutzen und somit an die Sprachkenntnis unserer Kollegen sowie ihr Verständnisappellieren. Diese Sprachkenntnis und dieses Verständnis müssendie Wissenschaftler immer wieder aktivieren, wenn sie Texte, die in derformalen Metasprache abgefaßt sind, interpretieren wollen. DiesesProblem ist selbstverständlich in allen Wissenschaften dasselbe. Nursind die anderen Wissenschaften in der Lage, daß sie ihren Gegenstandunabhängig von jeglicher sprachlicher Fassung beobachten können.Die Linguisten dagegen haben, als hermeneutischeWissenschaftler, ihren Gegenstand in eben derselben Weise zu interpretieren,wie sie auch Theorien darüber interpretieren.

Der Versuch, eine Metasprache zu verabreden, führt also mindestensin der Linguistik zu einem infiniten Regreß; wir kommen nicht ausder Sprache heraus. Wenn das aber so ist, ist es vielleicht am realistischsten,wenn man linguistischen Theorien und Beschreibungen gleich den Status vonParaphrasen zuschreibt – und nichts als Paraphrasen. Schon der Semiotiker Ch. Morris nannte 1948 seinen Aufsatz über die Metasprache "Signs about signsabout signs" (vgl. zur theoretischen Grundlegung auch Jakobson 1959: 261).Die Paraphrase appelliert ebenso wie das Paraphrasierte an das Verständnisdes Empfängers. Allerdings macht sie den Empfänger zusätzlichdarauf aufmerksam, daß eine Paraphrasenrelation intendiert ist, d.h.daß er sich auf die synonymen Aspekte von Paraphrase und Paraphrasiertemkonzentrieren soll, und läßt ihn so beides präziser verstehenund im günstigsten Falle neue Aspekte in dem Paraphrasierten entdecken.

Idealisierung, Theorie und Modell

Das Gesagte ist ein Argument, aufgrund dessen man zu der Auffassung gelangen kann,das Objekt der Sprachwissenschaft und seine Beschreibung seien nichts Wesensverschiedenes. Ein völlig anderes Argument führt zu demselben Ergebnis. Bevorwir dieses prüfen, müssen wir allerdings den Begriff der Idealisierungeinführen.

1. Der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft wird nicht einfach durchvorwissenschaftliche Erfahrung vorgefunden. Vielmehr wird er von der Wissenschaftbzw. von einer Strömung oder Theorie einer Wissenschaft definiert.Dazu gehört insbesondere, daß diese sich den Gegenstand gegenüberder Fülle und Komplexität der Phänomene vereinfacht. DerWissenschaftler sieht von bestimmten Eigenschaften des Gegenstandes bewußtab, tut also für die Zwecke seiner Theorie so, als hätte derGegenstand solche Eigenschaften nicht. Z.B. gilt Galileis Fallgesetz fürden Fall im luftleeren Raum; jeglicher tatsächlich beobachtbare Fallfindet aber nicht im luftleeren Raum statt. D.h. die Theorie handelt vonnichts, was es wirklich gibt. Das wird nicht als fatales Manko der Theorieangesehen, solange sie dennoch fruchtbar ist.

Viele linguistische Theorien sehen davon ab, daß jegliche Sprachesynchron in allen möglichen Dimensionen variiert und daß siesich diachron wandelt. Solche Theorien sehen von wesentlichen Eigenschaftenmenschlicher Sprache ab. Ob sie dennoch fruchtbar sein können, bestimmtsich offensichtlich nach den Erkenntnisinteressen der Benutzer der Theorie.Eine Idealisierung eines Gegenstandsbereichs ist eine Vereinfachungderart, daß von bestimmten seiner Eigenschaften der Einfachheit halberabgesehen wird.Im Gegensatz zu einer Abstraktion ist eine Idealisierung nicht eineVerallgemeinerung über Details, sondern eine Ausklammerung von Aspekten,die möglicherweise wesentlich sind (Weiteres anderswo). Methodologisch betrachtet, repräsentiert eine Idealisierung eine Entwicklungsstufe der Theoriebildung, die langfristig durch eine umfassende Theorie überwunden werden muß.

2. Der Begriff des Modells ist von dem der Theorie nicht sehrweit entfernt. Die verschiedenen Modellbegriffe haben gemeinsam, daßein Modell jedenfalls eine idealisierte Repräsentation eines bestimmtenGegenstandsbereichs ist (vgl. Rinke 1979:31). Man kann das Modell zwischenTheorie und Gegenstandsbereich ansiedeln. Von der Theorie aus gesehen,vertritt es dann den Gegenstandsbereich; vom Gegenstandsbereich aus gesehen,vertritt es die Theorie. Die erstere Sicht des Modells ist in den Wissenschaften,die über formale Theorien verfügen, geläufig, währendin Wissenschaften wie der Linguistik der letztere Begriff gängig ist.Gegeben den verhältnismäßig niedrigen Stand theoretischerVervollkommnung in diesen Wissenschaften, ist es eine zweitrangige Frage,ob wir einen gegebenen Gegenstandsbereich in einem Modell repräsentierenoder eine Anschauung von ihm formulieren, die wir Theorie nennen.

Der Modellbegriff enthält allerdings einen zusätzlichen Aspekt,auf den es in unserem Zusammenhang ankommt: Das Modell soll dem repräsentiertenGegenstandsbereich isomorph sein, soll ihn also abbilden. Das BohrscheAtommodell und das Doppelhelixmodell von Watson und Crick sind klare Beispiele dafür, daß die Wissenschaft die Struktur eines für das unbewaffnete Auge nicht wahrnehmbaren Gegenstandes dadurch allseitiger Betrachtung zugänglich macht, daß sie einevergrößerte und idealisierte Replik, eben ein Modell von ihm,erstellt, dessen Struktur der des repräsentierten Gegenstands analogist. Dieser Aspekt des Modellbegriffs ist im Grunde eine Verschärfungund Konkretisierung einer unserer Forderungen an eine Theorie, nämlichdaß sie ihrem Gegenstandsbereich angemessen sei.

Übertragen wir diesen Gedanken auf die Linguistik, so besagt er,daß die Beschreibung oder Theorie des Linguisten von der Spracheein Modell der Sprache ist. Als solches ist sie der Sprache isomorph, d.h.sie ist eine – gewöhnlich idealisierte – Kopie der Sprache in allenihren Bestandteilen, nur mit dem Unterschied, daß man diese Kopiesozusagen von außen betrachten kann. Wenn man also auf den Unterschiedzwischen Theorie und Modell verzichtet, kann man zu der Auffassung gelangen,daß die Wissenschaft in ihrer Theorie den Gegenstandsbereich nachkonstruiert,eine Kopie von ihm anfertigt, daß also die wissenschaftliche Theoriebzw. das Modell und der wiedergegebene Objektbereich wesentlich identischsind. Diese Auffassung wird vermutlich noch gefördert durch den zuvorgeschilderten Umstand, daß die Sprachtheorie ebenso wie ihr Gegenstandein sprachliches Objekt ist, daß also die Theorie und ihr GegenstandObjekte derselben Art sind.

Der Leser wird bemerkt haben, daß ich, um diesen Argumenten Plausibilitätzu verleihen, die Präzision gelegentlich etwas vernachlässigenmußte. Daß zwei Gegenstände von derselben Art sind oder daß der eine eine Kopie des anderen ist, besagt natürlich in Wahrheit nicht, daß die beiden identisch sind. Insofern ist die in der Generativen Transformationsgrammatik propagierte Identifikation des Produkts der linguistischen Arbeit mit der Sprachfähigkeit des Muttersprachlersdurch die beiden Argumente nicht gerechtfertigt, und sie ist meines Erachtensdurch nichts zu rechtfertigen. Zudem ist eine wissenschaftliche Beschreibung eines Gegenstandsbereichs auch nicht einfach eine sprachliche Abbildung. Aufgabe der Wissenschaft ist es ja, die Phänomene auf den Begriff zu bringen und Prinzipien für die beobachtbare Variation anzugeben (mehr dazu anderswo).

Dennoch zeigen beide Argumente, daß gerade im Falle der Sprachwissenschaft der Gegenstand und seine Beschreibung schwieriger auseinanderzuhalten sind als in anderen Wissenschaften. Vielleicht findet sich in keiner anderen Wissenschaft so häufig der Vorwurf, ein Kollege habe Eigenschaften seiner Konstrukte mit Eigenschaften derSache verwechselt und biete Feststellungen über sein linguistischesModell als Erkenntnisse über die Sprache an.7

Fazit

Das Fazit dieser Überlegungen ist, daß Sprachtheorie gegen andereArten von in der Sprachwissenschaft relevanten Theorien abgegrenzt werdenkann und muß. Der undifferenzierte Ausdruck 'linguistische Theorie'für alle diese Theorien verschleiert wesentliche Unterschiede. Unterallen Theorien, die in und über Sprachwissenschaft gemacht werdenkönnen, hat als einzige die Sprachtheorie die Sprache zum Gegenstand.Da die Sprache nur in Form von Sprachen vorkommt, ist es ebenso richtigzu sagen, die Sprachtheorie habe die Klasse aller Sprachen zum Gegenstand.

Rein wissenschaftstheoretisch betrachtet, leuchtet auch die Notwendigkeitein, die Sprachtheorie von der Theorie der Sprachbeschreibung zu unterscheiden,denn das Objekt ist nicht gleich seiner Beschreibung. Andererseits istnicht zu verkennen, daß das Bemühen des Wissenschaftlers geradedarin bestehen kann, seine Beschreibung, in Form eines Modells, dem beschriebenenGegenstand möglichst ähnlich zu machen, und daß Aussagenüber theoretische Konstrukte oft de facto nicht zu unterscheiden sindvon Aussagen über den Gegenstand selbst. Ich nehme daher nicht fürmich in Anspruch, daß mir der Fehler, in einer Abhandlung überSprachtheorie Aussagen über Sprachbeschreibung zu machen, niemalsunterläuft.

1 In dieserBeziehung gilt die konstruktivistische Wissenschaftstheorie; vgl. Maturana& Varela 1987.

2 Falsifizierbarzu sein ist also eine positive Eigenschaft einer Theorie! Es ist natürlich nicht dasselbe wie falsifiziert zu sein. Näheres hierzu anderswo.

3 In der Linguistikist es u.a. Hans-Heinrich Lieb (Berlin), der sich um die Axiomatisierungseiner Theorien bemüht (z.B. Lieb 1984ff).

4 Die Begriffe'formale Theorie' und 'logische Theorie' hängen also nicht notwendig(aber gelegentlich faktisch) voneinander ab.

5 Der Ausdruck interindividuell präjudiziert in Wahrheit nicht, daß die Individuen Menschen sind. Somit ist es kein Bestandteil des Definiens von ‘Sprache’, daß sie auf Menschen bezogen sei. Wie wir an anderem Orte sehen werden, ist das aber de facto so. Deswegen kann es nichts schaden, wenn hier von Menschen die Rede ist und wenn gelegentlich (etwas schlanker) interpersonal statt interindividuell gesagt wird.

6 Bereits ein ungrammatischer Satz in einem Korpus führt zu inkonsistenten Daten. Ein sprachlicher Prozeß, der einem allgemeinen Prinzip über Prozesse dieser Art zuwiderläuft, so wie etwa die wenigen Fälle von Degrammatikalisierung der Unumkehrbarkeit von Grammatikalisierung zuwiderlaufen, führt Inkonsistenz auf einer höheren Ebene, nämlich der des Sprachsystems, ein. Über solche Verhältnisse im Gegenstandsbereich lassen sich keine Gesetzesaussagen machen, die in einem logischen Kalkül ausdrückbar wären. Mehr dazu auf der Seite über Ausnahmen.

7 Vgl. z.B. Coserius (1974) Begriff der linguistischen Universalien (i.Ggs.z. den sprachlichen Universalien).

8 Dies gilt in erster Linie für das Verhältnis zwischen den Wissenschaften so, wie sie sich als Ordnungseinheiten akademischer Einrichtungen manifestieren. Es gilt weniger für die Untergliederung einer einzelnen Wissenschaft; da gibt es sehr wohl allgemein anerkannte Hierarchien.

9 Im selben Sinne sagt H. Paul (1909IV: 5): "Man befindet sich in einer Selbsttäuschung, wenn man meint, das einfachste historische Faktum ohne eine Zutat von Spekulation konstatieren zu können."

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